Das Stadtbild und seine Elemente nach Kevin Lynch's "Das Bild der Stadt"

Grundlagen der Analyse

Kevin Lynch bildete ein neues Kriterium: das der „Einprägsamkeit“, „Lesbarkeit“ und „Vorstellbarkeit“; aus einer Fülle von Materialien, welches er aus Flächenstudien und aus persönlichen Gesprächen mit den Einwohnern der Städte Los Angeles, Boston und Jersey City gewann, ergänzt durch Erkenntnisse aus Literatur, Anthropologie, Psychologie und Kunst. Die Spannweite dieser umfassenden Erörterung führt zu einer ursprünglichen und lebendigen Methode der Beurteilung einer Stadtgestalt. Von diesem Gesichtspunkt aus lassen sich ständig neue Verfahren und neue Vorstellungen entwickeln.

DAS BILD DER UMWELT
Meistens ist unsere Wahrnehmung von der Stadt nicht ungeteilt und gleichmäßig, sondern viel mehr zerstückelt, fragmentarisch, mit anderen Interessen vermischt. Fast alle Sinne treten in Tätigkeit, und das vorgestellte Bild setzt sich aus ihnen allen zusammen. Die Stadt ist nicht nur ein Objekt, das von Millionen Menschen, die hinsichtlich ihres Standes und ihres Charakters grundverschieden voneinander sind, wahrgenommen – sie ist auch ein Produkt vieler Baumeister, die ihre Struktur ständig ändern. Während die Stadt in ihren Hauptzügen im Großen und Ganzen für einige Zeit stabil bleibt, ändert sie sich doch ständig in Einzelheiten.  Über ihr Wachstum und ihre Form kann nur eine Teilkontrolle ausgeübt werden. Es gibt kein Endresultat – nur eine dauernde Aufeinanderfolge von Phasen.

ABLESBARKEIT
Von besonderer Bedeutung ist die Klarheit bzw. Ablesbarkeit, wenn man die Umgebung im Zusammenhang mit dem Maßstab der Stadt in bezug auf Dimension, Zeit und Verzweigtheit betrachtet. Wir müssen die Stadt so betrachten, wie sie von ihren Einwohnern wahrgenommen wird. Gliederung und Kenntlichmachung der Umgebung sind lebenswichtige Fähigkeiten aller sich fortbewegenden Lebewesen. Beim Prozess des Sichtzurechtfindens besteht das strategische Hilfsmittel in der Vorstellung von der Umgebung, in dem allgemeinen geistigen Bild, das sich eine Person von der äußeren Welt der Erscheinungen macht. Ein klares Bild der Umwelt ist somit eine nützliche Basis für die individuelle Entwicklung. Eine gute Vorstellung von der Umgebung verleiht dem, der darüber verfügt, ein ausgeprägtes Bewusstsein gefühlsmäßiger Sicherheit. Er ist in der Lage, eine harmonische Verbindung zwischen sich selbst und der Außenwelt herzustellen. De gegenteilige Empfindung ist die der Angst, die einen überfällt, wenn man sich verirrt; daraus geht hervor, dass das wohlige „Heimat-Gefühl“ dann am stärksten ist, wenn „Heimat“ nicht nur etwas Vertrautes, sondern auch etwas Charakteristisches ist.
Das Bild der Umwelt ist das Ergebnis eines Prozesses, der zwischen dem Beobachter und seiner Umwelt stattfindet. So kann das Bild einer gegebenen Wirklichkeit für verschiedene Wahrnehmer je ein ganz verschiedenes sein.

STRUKTUR UND IDENTITÄT
Das Vorstellungsbild der Umwelt enthält die folgenden drei Komponenten: Identität, Struktur und Bedeutung. Es ist zweckmäßig diese drei bei der Untersuchung gesondert zu betrachten. Ein brauchbares Bild erfordert zunächst die Identifizierung eines Gegenstandes, die es möglich macht, ihn von anderen Gegenständen zu unterscheiden und als Separat-„Wesen zu erkennen. Wir nennen dies „Identität“ – nicht im Sinn der Übereinstimmung, sondern im Sinn von „Individualität“ oder „Ganzheit“. Außerdem muss das Bild eine räumliche oder strukturelle Beziehung des Gegenstandes zum Beobachter und zu anderen Gegenständen enthalten. Soll ein Bild Wert haben im Hinblick auf Orientierung innerhalb des Lebensraums, so muss es über bestimmte Qualitäten verfügen. Es muss zweckmäßig und zuverlässig im nüchternen Sinn sein und dem Individuum gestatten, sich in den Grenzen seiner Umgebung nach Wunsch zu bewegen.

EINPRÄGSAMKEIT
Der Begriff Einprägsamkeit umfasst nicht notwendig etwas Feststehendes, Begrenztes, Präzises, Einheitliches, regelmäßig Angeordnetes – wenn damit auch manchmal diese Qualitäten gemeint sein können. Die gesamte zu modellierende Umwelt ist äußerst kompliziert, während das augenfällige Bild bald langweilig wird und immer nur wenige Züge der lebendigen Welt zeichnet. Es gibt noch andere Merkmale einer schönen Umgebung: Wirkung oder Ausdruck, Sinnesfreude, Rhythmus, Anregung, Erlesenheit. Unser Zweck ist der, dem Bedürfnis nach Identität und Struktur in unserer Wahrnehmungswelt Rechnung zu tragen und auf die besondere Wichtigkeit dieser Qualität im besonderen Fall der komplexen und veränderlichen städtischen Umgebung hinzuweisen.
 
 

ELEMENTE
 
WEGE = Kanäle, durch die sich der Beobachter gewohnheitsmäßig, gelegentlich oder möglicherweise bewegt. Es kann sich um Straßen, Spazierwege, Verbindungswege, Wasserwege, Eisenbahnen handeln. Die Menschen beobachten eine Stadt, während sie sich durch sie hindurchbewegen, und längs dieser Bewegungslinien sind – auf sie bezüglich – die anderen Umgebungselemente angeordnet.

GRENZLINIEN (RÄNDER) = diejenigen Linearelemente, die vom Beobachter nicht als Wege benutzt oder gewertet werden. Es handelt sich um die Grenzen zwischen zwei Gebieten, lineare Unterbrechungen des Zusammenhangs; Küsten, Eisenbahnstrecken, Mauern. Sie stellen eher „seitliche Richtmarken als Koordinatenachsen dar. Solche Grenzlinien können als mehr oder weniger überwindbare Schranken gelten, die das eine Gebiet vom anderen abschließen oder sie können als Säume, Nähte, als Linien betrachtet werden, die zwei Gebiete aneinanderfügen und miteinander in Verbindung bringen.

BEREICHE = mittlere bis große Abschnitte einer Stadt, welche als zweidimensionale Gebiete wahrgenommen werden, in die der Beobachter „hineingeht“ und deren jedes auf Grund seines irgendwie individuellen Charakters erkennbar ist. „Von innen“ stets zu identifizieren, werden sie auch „von außen“ als Referenz benutzt – wenn sie von außerhalb erkennbar sind. Es scheint nicht nur vom Individuum, sondern auch von der jeweiligen Stadt abzuhängen, ob Wege oder Bereiche die vorherrschenden Elemente sind.

BRENNPUNKTE = strategische Punkte einer Stadt, die einem Beobachter zugänglich sind; es handelt sich um intensiv genutzte Zentralpunkte, Ziel und Ausgangspunkt seiner Wanderungen. Sie können als Knotenpunkte gelten, als Verkehrsunterbrechungen, als Kreuzungen oder Treffpunkte von Straßen – als Punkte in denen eine Struktur in die andere übergeht – oder als Konzentrationspunkte angesehen werden, deren Bedeutung in der Verbindung von Benutzungszwecken oder in einer ausgeprägten Eigenart (geschlossener Platz, Straßenecke, usw.). Einige dieser Konzentrationspunkte sind zugleich Zentrum und „Inhaltsangabe“ eines Bereiches, über den sie ihren Einfluss ausstrahlen und dessen Symbole sie darstellen. Man könnte sie als Kernpunkte bezeichnen. Der Begriff „Knotenpunkt“ ist eng mit dem Begriff „Weg“ verknüpft, da in einem solchen Punkt Wege zusammenlaufen. Knotenpunkte sind die Ereignisse einer Fahrt oder Wanderung. Sie stehen in Zusammenhang mit dem Begriff „Bereich“, da sie deren Mittelpunkte, ihre Polarisationszentren bilden.

MERK- oder WAHRZEICHEN = eine andere Art von „optischen Bezugspunkten“. In sie kann der Beobachter nicht „eintreten“, sie sind äußere Merkmale. Gewöhnlich handelt es sich um einfache Objekte: Gebäude, Schilder, Anhöhen. Viele dieser Merkzeichen befinden sich in einiger Entfernung vom Beobachter, sie wirken typisch von verschiedenen Standpunkten aus und in verschiedenen Abständen; sie übertragen kleinere Elemente und dienen als „Radialmarken“.

Keines der oben angeführten Elemente tritt in Wirklichkeit isoliert auf. Bereiche umfassen in ihrer Struktur Brennpunkte, Grenzen, Wege und Merkzeichen. Die  Elemente greifen ineinander und durchdringen einander.


QUELLE: LYNCH, Kevin: Das Bild der Stadt; Ullstein, Berlin 1965 (Bauwelt Fundamente 16)